Laut denken oder von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden 2022

Die Sommerferien sind zu Ende. Ab jetzt gilt der Blick dem, was da angesichts von Krieg, Energiekrise und Inflation ab Herbst auf uns zukommt: Monate der Entsagung als Bewährungsprobe für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und die Standfestigkeit unserer Demokratie. Darunter machen wir es nicht. Aber diesmal könnte es stimmen, selbst wenn gerade diejenigen, die aus parteipolitischem Kalkül am lautesten das Bedrohungsszenario heraufbeschwören, den Ernst der Lage am wenigsten zu begreifen scheinen und selbst noch Öl ins Feuer gießen statt sich am Löschen des Brandes zu beteiligen. Als hätten wir immer noch Zeit für solch Spielchen. Als ginge es immer noch um Kosmetik und nicht längst um die Substanz. Spätpubertäres Gehabe eben, wie man es von Klientelparteien wie der Linken, der AfD und, ja auch, der FDP nicht anders erwartet.

Aber auch die CDU stellt in einer Zeit, in der es eigentlich nicht länger um Stil-, sondern um existenzielle Fragen geht, die eigene Profilierung als Opposition in der Form über Lösungsansätze in der Sache. Mehr Schärfe, mehr Polemik und vor allem persönlich – das schließt noch immer die Reihen –, dachte sich wohl Friedrich Merz, als er gegen Habeck nach dessen Interview mit Maischberger zur Frage einer möglichen Insolvenzwelle austeilte: „Wir dürfen ihm immer wieder beim Denken zusehen. Und er kann gefällig formulieren. Aber mit Verlaub: Wie hilflos Sie sind, konnte man gestern im deutschen Fernsehen beobachten. Man kann nur hoffen, dass ein Großteil der deutschen Unternehmer gestern schon geschlafen hat.“ Tosender Applaus. Treffer, versenkt, sah man Merz darauf feixen. Mal abgesehen davon, dass kein Geringerer als Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Habeck inhaltlich beisprang (dass eine Betriebsaufgabe nicht grundsätzlich gleichbedeutend mit einer Insolvenz sei), bleibt doch die Frage, was Merz mit seinen Auslassungen eigentlich sagen wollte. Denn ganz augenscheinlich unterstellt Merz ja einen Zusammenhang zwischen dem Denken und Formulieren Habecks und dessen Hilflosigkeit, andernfalls macht das Ganze als Spitze gegen den Bundeswirtschaftsminister ja keinen Sinn. Ergo ist es der Versuch, den Politiker Habeck in seiner Art (die ihn zum beliebtesten Politiker Deutschlands gemacht hat) zu diskreditieren, einer Art, die angeblich zu nichts als Hilfslosigkeit führt. Wohlgemerkt die Art, nicht ein Fehler, nicht eine Falschaussage. Was aber, wenn wir genau diese Art noch sehr nötig haben sollten?

Wir befinden uns in der vermutlich größten Krise seit dem 2. Weltkrieg. Zur Bewältigung dieser Krise, die die nationale Einheit bedroht, braucht es, wie Nikolaus Blome in seiner lesenswerten Kolumne vom 12.09. auf Spiegel online schreibt, „Pathos und eine heilende Erzählung. Meinetwegen auch von Robert Habeck“. Lesenswert, weil hier einer darauf hinweist, dass Hilfspakete zwar unabdingbar sind, allein aber nicht reichen werden. Neben der materiellen Unterstützung bedarf es ebenso eines ideellen Ankers, eines „zeitgemäßen Mythos“, wie es bei Blome heißt, um das Land zusammenzuhalten. Auch das ist Aufgabe von Politik, nicht nur das Schnüren von Päckchen. Denn der Mensch muss wissen, wofür er etwas macht, und dies umso mehr, je weniger es ihn vordergründig selbst angeht. Gerade bei Verzicht. Und er muss sehen, dass er damit nicht alleine steht. Mitgenommen von einer Erzählung, die glaubhaft um die verbindenden Worte ringt.

Wer könnte das besser vermitteln als jemand, dem man beim Denken zusehen kann. Und der dazu noch zu formulieren in der Lage ist. Der nicht nur Vorgestanztes von sich gibt, sondern der uns auf seiner Suche nach der richtigen Ansprache immer wieder die Hand reicht. Heinrich von Kleist nannte diesen Prozess die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Eine Art lautes Denken, bei dem der Redende mit jeder Verlautbarung mehr (wenn vielleicht auch mal mäandrierend) zu Klarheit und Überzeugungskraft seiner Gedanken vorstößt. Bei der aus einer vielversprechenden Ahnung letztlich Gewissheit zu werden vermag. Ein Verfahren ständiger Annäherung und Verfeinerung, bei dem man im besten Falle nicht nur das Ergebnis des Denkens erfährt, sondern auch seinen Weg dorthin. Das braucht Vertrauen. Auf beiden Seiten. Aber es schafft auch Vertrauen. Ein Vertrauen, das vielleicht schon der erste Baustein des gesuchten Mythos sein könnte.

Und jetzt stelle man sich einmal vor, man hätte, in diesen Zeiten der multiplen Krisen, so jemanden in seinen Reihen (nicht als Partei, sondern als Land), jemanden, der all dies mitbringt. Er muss nicht zwingend Robert Habeck heißen, aber es müsste eben einer wie Habeck sein, der sich traut, laut zu denken, der formulieren kann und dabei glaubhaft ist, so dass ihm die Menschen zuhören. Im Zuhören vereint, das wäre schon was. Und eine Stimme, die die Seele trifft. Denn verdammt! Es wird wehtun, ja. Aber wenn wir uns jetzt noch weiter übereinander erheben statt gegenseitig das jeweils Beste in uns zu stärken, wird es irgendwann nicht mehr um Verzicht gehen, dann werden wir die Verluste zählen.