Corona-Pandemie: Was fehlt IV

Derzeit mehren sich die Berichte zum Jahrestag der Pandemie. Das volle Programm: Rückblicke mit animierten Grafiken von Verlaufswellen, ein Best-of der Prognosen und Fehleinschätzungen, quasi als Ranking der Experten, zwischendurch ein Kessel Buntes (so soll Corona die deutsche Sprache ja allein um 1300 neue Begriffe bereichert haben) und zum Schluss ein paar O-Töne von Betroffenen (sofern sie denn überlebt haben). Dies alles auf allen Kanälen bis zur breit diskutierten Erschöpfung, sei diese nun Folge der eigentlichen Lockdown-Maßnahmen oder des Verdrusses über die fehlende Flexibilität angesichts einer existentiellen Krise und die monatelange Lernresistenz der Verantwortlichen sowie den politischen Kleinmut, mit dem in vorauseilendem Gehorsam gegenüber einer imaginären Erwartungshaltung im Volke immer wieder das befeuert wurde, was man am meisten fürchtete, statt einmal auf Ingeborg Bachmanns Worte zu vertrauen: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“

Während also auf der einen Seite die Listen der Versäumnisse geschrieben werden, wird auf der anderen auf ein baldiges Ende durch Impfung, Sommer und überhaupt, weil „es jetzt ja auch mal reicht“ gesetzt, schließlich gäbe es ja auch Licht am Ende des Tunnels, bald sei es vorbei, las ich da in der Zeitung. Vorbei! Auf einmal sah ich es vor mir, das Ende der Pandemie. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich legte die Zeitung beiseite und atmete tief durch. Ich hatte den Gedanken bisher noch nicht wirklich zugelassen. Statt Erleichterung oder Vorfreude spürte ich das genaue Gegenteil. Eine seltsame Schwere, ein undurchdringlicher Schatten legte sich auf mich. Natürlich sollte all dieses Leiden schnellstmöglich beendet, die Vereinsamung der Menschen durchbrochen werden. Je früher, desto besser. Das war ja keine Frage. Und doch schoss mir in dem Moment ein Gedanke in den Kopf ­– und es war wirklich, als träfe mich eine Kugel –, der mir für Sekunden den Atem nahm: Waren wir schon soweit? Hatten wir wirklich schon begriffen? Wenn es jetzt vorbei sein sollte, wofür waren dann die zigtausend Menschen gestorben? Waren Leid und Tod dann nicht völlig sinnlos gewesen? Wie nach einer Monsterwelle, die erst alles mit sich reißt und ein Bild der Zerstörung hinterlässt, um sich dann wieder auf ihr altes Level zurückziehen, als sei nichts gewesen. Warteten die Menschen, müde wie sie waren, nicht nur auf die Rückkehr der glatten See, um sich endlich einmal wieder einfach treiben zu lassen? Längst waren die aufrüttelnden Utopie- und Solidaritätsbeschwörungen der Frühphase einem allgemeinen Lamento gewichen, von einem Bewusstseins-Werte-Strukturwandel keine Rede mehr. Wenn aber beim Blick zurück, nach dann vielleicht eineinhalb, zwei Jahren, uns dasselbe Ich aus demselben Spiegel desselben Hauses in einem gleichgebliebenen Land anschaute, dann wäre das die zweite Katastrophe und das eigentliche Versagen von uns als Gesellschaft.