30 Seconds of Calm
Göttingen, An der Garte
Tagelang starrten wir jede freie Minute gebannt auf die Mattscheibe, wechselten von Phönix zu Fox News und landeten doch immer wieder bei CNN, wo wir an John Kings Lippen hingen, während er an der Magic Wall die Wahlprognosen verortete. Der letzte Blick vor dem Schlafengehen galt den Zahlen in den Swing States und der erste Griff am nächsten Morgen dem Smartphone, nur um festzustellen, dass Nevada sich nach wie vor eine Auszeit gönnte. Die Auszählung zog sich wie ein plattgetretenes Kaugummi, das sich nicht von der Schuhsohle abtrennen lassen will. In einer beispiellosen Endlosschleife, die eigentlich jeden Schlafgestörten hätte ins Koma versetzen müssen, wurden die möglichen Ausgangsszenarien durchgespielt, und doch wachten wir wie hypnotisiert vor der Glotze. Konditionierten Versuchskaninchen gleich folgten wir den hingeworfenen Häppchen der Berichterstattung im Vertrauen auf eine letztliche Belohnung und bemerkten kaum, wie die Zeit nicht nur verging, sondern der jeweilige Moment bereits von dem kommenden aufgefressen war. Getilgte Gegenwart in permanenter Erwartung auf eine Erlösung versprechende Zukunft durch die Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses. CNN verzichtete sogar weitestgehend auf Werbeblöcke und Trailer, um ja nichts zu verpassen und im Flow zu bleiben. Selbst die 30 Seconds of Calm, Kurzfilmchen zum meditativen Innehalten zum Ausgleich des sonstigen Nachrichtengewitters, fielen dem zum Opfer. Wie sehr diese, nicht unbedingt die Filmchen, aber die Sekunden eines kurzfristigen Aussteigens aus dem Hamsterrad, fehlten, merkte ich erst, als ich mich endlich zu einem Gang über die Felder aufraffte und an einen Bachlauf kam. Ich lauschte. Nichts. Noch einmal. Immer noch nichts. Keine Menschenseele weit und breit. Kein infernalisches Battle-Intro. Keine aufgeregten Stimmen. Stille. Nein. Da war noch was. Langsam, ganz langsam, wie aus weiter Ferne sich nähernd, drang das leise Plätschern des träge vor sich hin fließenden Baches zu meiner Rechten an mein Ohr. Ich blieb stehen. Das Plätschern wurde immer deutlicher und klarer, als würden sich einzelne Stimmen zu einem erhebenden Choral zusammenfinden. Ich verharrte und lauschte diesem Gesang. 30 Sekunden lang, in denen es kein Davor und kein Danach gab. Aber wieder mich. Mehr brauchte es nicht.