Guten Morgen Herr Bundeskanzler,

haben Sie auch so schlecht geschlafen wie ich? Der Angriffskrieg auf die Ukraine, ich weiß. Wie könnte man da ruhig schlafen. Aber es ist ja nicht nur der Krieg für sich – den einzig Putins Russland zu verantworten hat –, es ist ja auch der Umgang mit diesem Krieg, für den wir dann sehr wohl mit zur Verantwortung gezogen werden können. Und es ist – nach über zwei Jahren Pandemie und dem sich immer drastischer zuspitzenden Klimawandel – der Umgang mit globalen Herausforderungen, auf die es keine globalen Antworten gibt. Wo Antworten fehlen, sind jedoch überzeugende Erklärungen umso wichtiger, um die Menschen weiterhin an einen gemeinsamen Dialog zu binden.

Aktuell erleben wir, wie die Herausforderung der Globalisierung zunehmend zu einer Überforderung für den Menschen wird, und dies nicht nur, was das Durchschauen der internationalen Verflechtungen angeht, sondern auch, was unser Mitgefühl betrifft. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass bei ernstgenommener globalen Weltsicht die Ukraine eigentlich überall ist (und dies nicht erst seit Ende Februar), dass eben jedes Land in Zeiten der Globalisierung ein Nachbarsland ist, stoßen wir spätestens an die Grenzen unserer Empathie- und Solidaritätsreserven. Diese Überforderung, die zuvorderst in offenen Systemen zum Tragen kommt, machen sich die populistischen und autokratischen Strömungen weltweit zu Nutze, und sie wird von den Trollen ihrer Machthaber gezielt befördert, indem sie uns im Wettkampf der Systeme mit Fake News fluten, um das Fundament der demokratischen Gesellschaften zu untergraben. So weit, so bekannt.

Nun hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hier eher Gegenteiliges bewirkt. Statt weiter zu spalten, hat er die EU und die NATO-Partner enger zusammenrücken lassen. Das ist ein starkes Zeichen, vielleicht auch, weil man sich der jeweils eigenen Schwächen durchaus bewusst ist, denn innerhalb der westlichen Demokratien ist eine sog. Repräsentationskrise nicht zu leugnen. Immer mehr Bürger sehen sich nicht länger von der Politik vertreten. Das betrifft vor allem die einkommensschwachen Schichten bzw. die Verlierer der Globalisierung. Die dahinterstehende eigentliche Bedrohung jedoch betrifft die Demokratie selbst. Ihr Fundament – ein in sich kongruentes Bezugssystem – löst sich mehr und mehr auf. Menschen klinken sich aus dem Dialog aus und finden ihre neue Heimat in alternativen Wahrheiten. Das mag zum Teil nicht zu verhindern sein, und ist zu einem gewissen Grad auch verschmerzbar, in der Summe jedoch ist es ein Alarmsignal für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Was wir dem entgegenzusetzen haben: die Freiheit und Überzeugungskraft verantwortlichen Kommunizierens. Intransparentes, inkonsistentes Kommunizieren – gerade von Seiten der Politik – ist der Nährboden für Verschwörungstheorien und den seit Jahren beklagten Vertrauensverlust in die Entscheidungsträger der demokratischen Staaten. In Diktaturen gibt es dieses Problem nicht, da dort bekanntlich Inhalte nicht kommuniziert, sondern diktiert werden. Und hier komme ich endlich zu dem Punkt, der mich aktuell nicht schlafen lässt, und das ist, Herr Bundeskanzler, Ihre Art der Kommunikation im Umgang mit dem russischen Angriffskrieg (wie sie zuletzt im SPIEGEL-Interview vom 23.04. zum Ausdruck kam).

Einmal davon abgesehen, dass das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung weniger Beachtung in Ihren Wortbeiträgen findet als das dünnhäutige rückwärtsgewandte Geraderücken angeblicher Zerrbilder sozialdemokratischer Politik in der Vergangenheit (als ob es angesichts des Krieges um Parteipolitik ginge) oder der peinliche Verweis auf Ihre Belesenheit, was Ihr aufgeschlossenes Russlandbild anbelangt (als ob es um Sie als Person ginge), wird mir Deutschlands Rolle unter Ihrer Kanzlerschaft  im internationalen Kontext einfach nicht deutlich. Immer wieder betonen Sie die Eingebundenheit und das gemeinsame Vorgehen mit den westlichen Partnern. Immer wieder heben Sie hervor, dass es keinen deutschen Alleingang geben wird, um dann genau den zu beschreiten. Denn wie anders ist es zu verstehen, wenn Sie – angesprochen auf die Lieferung schwerer Waffen – sagen „Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben.“ Der letzte Satz ist wohl unstrittig. Der vorangehende allerdings nicht: Wenn Sie (wieder diese unnötige Personalisierung) alles für eine Deeskalation tun, was tun denn dann die anderen, unsere Verbündeten, unsere Partner in Übersee, die Niederlande, Italien, wenn diese schwere Waffen liefern, oder Länder wie Slowenien, wenn sie sich am sog. Ringtausch beteiligen? Riskieren diese Länder eine Eskalation? Einen Atomkrieg? Warum versuchen Sie (als Bundeskanzler) dann nicht, diese Staaten davon abzuhalten? Aber nein. So entsteht der Eindruck, es gehe nicht um die Sache, sondern um Deutschland. Ja, glauben Sie denn ernsthaft, dass Deutschland  im Fall einer Ausweitung des Krieges von der russischen Aggression verschont bleiben würde, quasi als Musterschüler, der als einziger alle möglichen Konsequenzen eines nicht geschriebenen „Lehrbuchs“ mitgedacht hat? Soll das die Position Deutschlands als NATO-Mitglied widerspiegeln?

Unabhängig davon, welche Position hier richtig oder falsch ist, geht es um Klarheit in der Kommunikation – wohlgemerkt Klarheit, nicht Vereinfachung. Wo sie fehlt, wächst die Verunsicherung. Die spüren wir derzeit sowohl in der eigenen Bevölkerung als auch bei den Bündnispartnern und nicht zuletzt bei jenen, um die es aktuell eigentlich geht, den Menschen in der Ukraine. Damit aus Verunsicherung nicht Ablehnung wird, bedarf es der Nachvollziehbarkeit von Entscheidungsfindungen, der Schlüssigkeit von Argumenten und des spürbaren Willens zur Erklärung der eigenen Haltung. Eigenschaften, die  ich momentan auf Ihrer Seite schmerzlich vermisse, ohne die die Demokratie jedoch im globalen Spiel der Kräfte auf Dauer nicht überlebensfähig sein wird.